Vorwort
In Sachsen erfolgt die praktische Radfahrausbildung im Rahmen der schulischen Verkehrserziehung. Sie ist Bestandteil des Lehrplans, wird im Fach Sachkundeunterricht durchgeführt und besteht aus Übungen sowie einer Abschlusskontrollfahrt. Laut Verwaltungsvorschrift erfolgt „Die Ausbildung [..] durch besonders geschulte Polizeivollzugsbeamte [..] auf Übungsplätzen beziehungsweise in geeigneten Hallen und nicht im öffentlichen Verkehrsraum.“
Ende Februar 2024 fragte mich die Klassenlehrerin meines Kindes einer Grundschule im Leipziger Westen, ob ich sie Mitte März bei der praktischen Radfahrausbildung der vierten Klasse auf dem Schulhof unterstützen könnte. Da ich mich (Daniel) in unserer Initiative für Belange der Kinder im Straßenverkehr einsetze und Interesse am Thema habe, sagte ich zu. Einen Tag vor der Ausbildung sprachen wir vor Unterrichtsbeginn einen kurzen Moment über den geplanten Ablauf. Die nachfolgende Schilderung basiert auf meinen Beobachtungen und spiegelt meine persönliche Einschätzung wider.
Erfahrungsbericht
Am Tag der praktischen Ausbildung standen zwei Unterrichtsstunden zur Verfügung. Die Lehrerin und ich waren die einzigen Personen, die die praktische Ausbildung durchführten. Dazu stand auf dem Schulhof ein Lieferwagen der Ralf-Ragnick-Stiftung. Er hatte 14 Fahrräder der Größe 24 und 20 Zoll und diverses Zubehör geladen. Die Klassenlehrerin musste die Fahrräder aus dem Lieferwagen ausladen. Erst unterstützten die Kinder, später ich. Ein Fahrrad hatte einen Platten und konnte nicht benutzt werden.
Die Klasse bestand aus 21 Kindern, von denen zwei an der Ausbildung nicht teilnahmen, da sie nicht Fahrrad fahren konnten. Die restlichen 19 teilte die Lehrerin in zwei Gruppen, wobei sich jedes Kind einen Partner gleicher Größe suchen sollte. Danach stellte ich die Sattel auf die erforderliche Höhe der Kinder ein. Drei Kinder brachten ihre eigenen Räder und Helme mit, wobei auch hier ein Sattel erst richtig eingestellt werden musste. Für alle anderen Kinder standen Helme aus dem Lieferwagen zur Verfügung. Die Klassenlehrerin und ich stellten die Riemen der Helme ein. Nach ca. 20 Minuten waren die Kinder fahrbereit.
Während eine Gruppe schriftliche Aufgaben an Tischen auf dem Schulhof erledigte, bestand für die andere Gruppe die erste Aufgabe im Umfahren eines Hindernisses. Da es keinen detaillierten Plan gab und auch ich nicht genau wusste, wie zu üben ist, entschieden wir uns, sechs Pylonen in Form eines Rechtecks aufzustellen.
1. Übung: Ausweichen
Wir erklärten den Kindern die erste Übung: Anfahren, Schulterblick, Handzeichen, Schulterblick, ausweichen, links am Hindernis vorbeifahren. Bei der Übung stand ich auf Höhe der fahrbahninneren Ecke des Hindernisses, damit die Kinder auch tatsächlich auf dieses zufuhren und erst kurz vorher auswichen. Jedes Kind durchfuhr den Parcours dreimal. Danach wurden die Gruppen gewechselt. Mit der zweiten Gruppe übten wir das gleiche. Anschließend variierten wir die Übung derart, dass die Kinder beim Handzeichen geben eine Gummischeibe greifen mussten, die ich ihnen reichte. Auf dem Rückweg gaben sie diese im Fahren der Klassenlehrerin zurück.
Da nun die erste Unterrichtsstunde vorbei und Hofpause war, mussten wir die Ausbildung unterbrechen, Hütchen und Räder bei Seite stellen. Danach wurde erneut aufgebaut und noch einmal gewechselt, damit die andere Gruppe auch die variierte Übung durchführen konnte. Insgesamt dauerte die Übung für beide Gruppen ca. 30 min.
2. Übung: Abbiegen
Die zweite Übung bestand darin, links abzubiegen. Da es auch hier keine Vorgaben für die Durchführung gab, improvisierten wir mit einem Parcours, der aus einer „8“ in der Mitte bestand. Mit vier Hütchen markierte ich die Kreuzung. Damit die Kinder die Kurve weit ausfuhren, platzierte ich in der Mitte der Kreuzung eine flache Gummischeibe. Wir erklärten den Kindern: Anfahren, Handzeichen geben, Gegenverkehr beachten, ggf. anhalten, abbiegen, Bogen fahren und durch die Kreuzung gerade aus zurück. Da die Runde zu klein und die Kinder zu schnell wieder am Startpunkt waren, staute es sich vor dem Abbiegevorgang und es gab keinen Gegenverkehr.
Um den Parcours zu vergrößern, wollten wir eigentlich ein Stativ mit Ablage aufstellen, von der die Kinder einen Gegenstand aufnehmen, das Stativ umfahren und den Gegenstand wieder ablegen sollten. Jedoch fanden wir im Lieferwagen keine entsprechende Halterung. Also vergrößerte ich stattdessen die „8“ nach oben und unten mit Pylonen. Danach konnten die Kinder den Parcours ohne anzuhalten durchfahren und es gab wie geplant Gegenverkehr. Da einige Kinder nicht rechtzeitig bremsen konnten, kam es zu Beinahe-Zusammenstößen: Einerseits mit dem Gegenverkehr, andererseits durch Auffahren auf den Vordermann.
Damit die Kinder vor dem Abbiegen tatsächlich die Hand ausstreckten, klatschte ich mit ihnen ab, was ihnen sichtlich Spaß bereitete. Jedes Kind sollte auch diesen Parcours mindestens dreimal durchfahren, bevor die Gruppen gewechselt wurden. Die Kinder hatten Spaß und fuhren teilweise recht schnell geradeaus durch die Kreuzung zurück, sodass ich sie zu langsamerem Fahren aufforderte. Wir wechselten wieder die Gruppen. Noch vor Ende der zweiten Übung waren zwei Kinder vom Rad fahren erschöpft und brauchten eine Pause. Insgesamt dauerte die zweite Übung auch wieder etwa 30 Minuten. Zehn Minuten vor Ende der zweiten Unterrichtsstunde bauten wir ab. Dabei mussten die Räder wieder in den Lieferwagen gehoben werden, wobei ich der Lehrerin half.
Große Herausforderungen für die Schulen
Die Klassenlehrerin teilte mir mit, dass die Schule erst wenige Tage zuvor über den Lieferwagen informiert wurde. Er stand der Schule eine Woche zur Verfügung. Für die Radfahrausbildung durften keine Fachstunden ausfallen. Die zeitliche Planung und die Integration in den Lehrplan seinen daher schwierig. In der einen Woche hatten vier dritte und drei vierte Klassen die Möglichkeit, die praktische Fahrradausbildung durchzuführen. Die Ausbildung mit Unterstützung der Polizei in einer ruhigen Nebenstraße wäre näher an der Lebenswirklichkeit der Kinder und in deren Wohnumfeld gewesen wären. Dies ist jedoch gesetzlich nicht mehr erlaubt. Die Fahrt zu einem der vier Leipziger Verkehrsübungsplätze hätte zu viel Zeit in Anspruch genommen. Ein Übungsplatz in Schulnähe wäre praktisch gewesen.
Nicht alle Grundschulkinder können (sicher) Fahrrad fahren
Unter den 21 Viertklässlern konnten zwei kein Fahrrad fahren und hatten auch nicht die Möglichkeit, dies in der Ausbildung zu erlernen. Zwei weitere Kinder hatten sichtbare Schwierigkeiten, das Fahrrad zu kontrollieren. Dazu zählten Anfahren, langsames Geradeausfahren, gezieltes Bremsen und einhändiges Fahren. Für knapp ein Drittel der Kinder war die Koordination von Erfassung der Situation und entsprechender Reaktion eine Herausforderung. Bei mehr als der Hälfte der Kinder hätte ich Sorge, sie auf der Fahrbahn fahren zu lassen, da sie zu unsicher waren. Während der letzten Übung stürzten zwei Kinder, da sie zu schnell um die Kurve fuhren. Größere Verletzungen gab es aber keine. Bei nur fünf Kindern hatte ich den Eindruck, dass sie die Situation sicher beherrschten. Jedoch müssen alle Kinder ab dem 10. Lebensjahr die Fahrbahn benutzen, wenn sie Fahrrad fahren. Ich kenne die Kinder und deren Umfeld nur flüchtig, würde aber behaupten, dass Kinder aus bildungsnahen Schichten sich besser schlugen als solche aus bildungsfernen.
Derzeitige Ausbildung nicht ausreichend
Insgesamt hatten die Kinder in den beiden Ausbildungsstunden sichtbar Freude – vermutlich auch, da die Ausbildung etwas anderes, ganz Praktisches war. Auch waren die Kinder sehr diszipliniert. Jedoch waren die beiden Unterrichtsstunden mit effektiv etwa 30 Minuten Fahrzeit je Kind für das praktische Erlernen der Verhaltensregeln zu kurz. Das Erlernte wurde nicht abgenommen oder mit einem Fahrradpass honoriert, was die Kinder im Fahrrad fahren bestärkt hätte. Die Lehrerin hatte die Kinder theoretisch mit einem Heft der Verkehrswacht gut vorbereitet und verband die Theorie durch Fragen mit der Praxis. Dennoch wirkte die Ausbildung improvisiert. Sie schien nicht den Stellenwert zu haben, der für das Fahren auf der Fahrbahn notwendig ist.
Ich als weder fachlich noch pädagogisch ausgebildeter Elternteil war mit der Klassenlehrerin alleine. Sie trug die komplette Verantwortung für die Radfahrausbildung. Für den Erfolge wären meines Erachtens speziell geschultes Personal und mehr Übungszeit notwendig gewesen.
Ich danke der Klassenlehrerin für den Einblick in die praktische Radfahrausbildung sowie dem Projekt „Sattelfest“ der Ralf-Ragnick-Stiftung für die kostenfreie Bereitstellung der Räder, Helme und Utensilien.