Der Leipziger Promenadenring
Eine der größten Leipziger verkehrstechnischen Herausforderungen ist eine Umgestaltung des Promenadenrings in Richtung einer Nutzbarmachung für umweltfreundliche Verkehrsformen und für mehr Aufenthaltsqualität.
Geschichte
Eine Webseite der Stadt Leipzig schreibt „Ab 1777 nutzte die Stadt den Rückbau ihrer Befestigungsanlagen, nicht um durch neue Baugrundstücke zu expandieren, sondern um einen ‚grünen Promenadenring‘ rund um den Stadtkern anzulegen.“ Bis in die 1940er Jahre sah das so aus:
[Bildarchiv Foto Marburg]
Später sind die Menschen schon einmal braunen Parolen hintergerannt … mit dem Resultat, dass die deutschen Städte mit all ihrer wunderschönen Bausubstanz in Schutt und Asche lagen, so auch Leipzig.
Auch in der DDR wurde versucht, die damalige Vorstellung der autogerechten Stadt zu verwirklichen und der Ring, so wie er heute existiert, entstand. Nach dem Ende der DDR wurden in den darauf folgenden 35 Jahren bundesdeutscher autozentrischer Verkehrspolitik alle bekannten Fehler wiederholt: mehr Straßen, mehr Parkhäuser und damit mehr Autos.
Heute
Den heutigen traurigen Zustand konnten sich die Leipziger im 18.Jahrhundert vermutlich nicht vorstellen. Auch wenn es zum Glück immer noch viele Grünanlagen gibt, wird der Ring selbst dominiert von Lärm, Luftverschmutzung, verstopften Straßen – alles andere als das, was man heutzutage als „Aufenthaltsqualität“ bezeichnet.
Bemerkenswert ist ein Votum des Bürgerrats zum „Einheitsdenkmal“: ein Standort am Ring ist ungeeignet, keinerlei Aufenthaltsqualität. Wen überrascht’s … trotz der bisherigen zaghaften Schritte ist der Ring nach wie vor ein Un-Ort, an dem man sich nicht sein mag.
Erste Fortschritte
Im Jahr 2018 erkämpfte der ADFC ein Gerichtsurteil, das die Sperrung des Rings für Radfahrende für rechtswidrig befand. Es dauerte weitere Jahre, bis nach einem ersten unbrauchbaren Versuch, einen Radstreifen auf den Dittrichring zu quetschen und der darauf folgenden ersten durch Verkehrswende Leipzig organisierten Großdemonstration im Mai 2021 im Rathaus offenbar endlich ein Umdenken stattfand – im Mai 2022 wurde der heutige beidseitige komfortable Radstreifen am Dittrichring freigegeben.
2023 folgte die Umgestaltung vor dem Hauptbahnhof und dem Tröndlinring zum heutigen Zustand.
Der von “konservativen” Stimmen prognostizierte Weltuntergang trat auch hier nicht ein. Allerdings ist der heutige Zustand nach wie vor Stückwerk. Wirklich attraktiv wird eine Radverbindung nur, wenn sie durchgehend ist.
Was wäre möglich
Ein 100% autofreier Ring wird schwer möglich sein, wäre aber auch gar nicht unbedingt nötig. Der Wirtschaftsverkehr (Müllautos, Anlieferungen der Geschäfte, Pflegedienste, usw usf) wird sich nicht vermeiden lassen, könnte aber z.B. auf bestimmte Zeitfenster begrenzt werden. Innerhalb des Rings wohnende Menschen und Hotels müssen Zufahrtsmöglichkeiten haben, an mobilitätseingeschränkte Menschen muss gedacht werden.
Nichtsdestotrotz wird die mit Abstand grösste Autobelastung durch den “motorisierten Individualverkehr” (MIV) hervorgerufen. Immer mehr und immer größere Autos verursachen all die Probleme, die wir heute haben (nicht nur in Leipzig) – mehr Platz ist weder möglich noch würde dies irgendein Problem lösen.
Zur EMW 2024 gab es in Leipzig zum zweiten Mal den “Ring für alle”, wo sichtbar wurde, dass die Leipziger:innen durchaus andere Nutzungsmöglichkeiten des Rings als nur für Autos begrüßen:
[(C) Verkehrswende Leipzig]
Es gibt durchaus Visionen, wie wirkliche Aufenthaltsqualität geschaffen werden könnte. Die Bauhaus-Universität Weimer führte in 2018 das Seminar „Den Ring neu erfinden. Leipziger Promenadenring: Verkehrsraum wird Stadtraum“ durch – die prämierten Entwürfe zeigen, was möglich wäre. Die dabei entstandenen Modelle waren zu sehen während einer Ausstellung des BUND und VCD zur EMW 2021:
Auch der Leipziger Ökolöwe e.V. macht konstruktive Vorschläge insbesondere zu den Themen „Radverkehr auf dem Ring“ und „autofreie Innenstadt„.
Was müsste dafür getan werden
Eine sofortige Lösung gibt es nicht, wohl aber langfristige Schritte, die auf dieses Ziel hinsteuern:
- Reduzierung des KFZ-Zulaufs von außen
- drastische Reduzierung/Verteuerung von Parkmöglichkeiten innerhalb des Rings. Existierende Nutzungsverträge sind baldmöglichst zu beenden
- Sperrung aller Straßen innerhalb des Rings für KFZ, wo und sobald dies rechtlich möglich ist
- Förderung von umweltfreundlichen Alternativen (ÖPNV, Shuttles, Fahrradinfrastruktur)
Zum Beispiel könnte eine Befahrungsmöglichkeit des Rings nur noch im Uhrzeigersinn eine Seite des Rings komplett freigeben. Die nicht mehr benötigte heute asphaltierte Fläche könnte durch Entsiegelung und Begrünung den Menschen zurückgegeben werden.
Die gängigen Contra-Argumente
- Die Innenstadt würde sterben, weil niemand mehr zum Einkaufen und Ausgehen kommt
- Die IHK Leipzig publiziert regelmässig Studien, die belegen, dass bereits heute die Mehrheit der Menschen, die die Leipziger Innenstadt besuchen, eben nicht mit dem Auto anreisen
- Es würde zu Staus kommen
- Dies wird bei Maßnahmen, die dem Autoverkehr Flächen entziehen sollen, immer wieder prognostiziert und genauso regelmäßig tritt es nicht ein
- Radikale Umgestaltungen gehen natürlich nicht von heute auf morgen und bauen auf Umgestaltungen auch im Umfeld auf. Konkret beim Leipziger Promenadenring muß der Zulauf von außen reduziert werden
- Menschen wählen die Mobilitätsformen, die die meisten Vorteile bieten – sobald bessere Alternativen zur Verfügung stehen, werden diese auch genutzt
- Die Hauptursache für Staus ist schlichtweg die viel zu große Menge (und Größe) von Autos
- es ist ein einfaches physikalisches Prinzip, dass durch eine Passage nur eine maximale Menge von Objekten fließen kann – wenn es zu viele oder zu große Objekte sind, kommt es Staus
- ein heute handelsüblicher PKW ist im Schnitt zwischen 4 und 5m lang, mit einen typischen Abstand passen damit z.B. auf den 370m langen Abschnitt des Dittrichrings zwischen Thomaskirche und Neuem Rathaus etwa 50 PKW (stehend!). Statistisch fahren in jedem KFZ 1.2 – 1.5 Menschen, d.h. insgesamt 70 Menschen – genausoviel, wie locker in einen kleinen LVB Bus passen. Auf dem gleichen Ring-Abschnitt könnten etwa 350 Menschen mit dem Rad fahren.
Sprich, der Stau ist selbst gemacht. Selbst KFZ-Verkehr könnte viel besser funktionieren mit vernünftig dimensionierten Fahrzeugen oder sinnvoller Nutzung/Auslastung.
„Bartz/Stockmar, CC BY 4.0“
All dies kann jede(r) selbst beobachten/ausrechnen. Oder sehr anschaulich hier.
- Rettungsfahrzeuge kommen nicht mehr durch
- Das absurdeste aller Argumente – das krasse Gegenteil ist der Fall
- Ebenfalls täglich zu beobachten: Bis Autos mal eine Rettungsgasse freimachen, vergeht enorm viel Zeit und Rettungsfahrzeuge kommen nur im Schrittempo voran.
- Alternativ können Rettungsfahrzeuge auf ein Straßenbahngleisbett (wenn vorhanden) ausweichen oder auf vernünftig breite Radwege – genau dies passiert bereits heute vor dem Hbf oder auf den Abschnitten des Rings, die über einen Radstreifen verfügen
- Das absurdeste aller Argumente – das krasse Gegenteil ist der Fall
Beispiele anderswo
Montpellier (300000 Einwohner, damit ½ so groß wie Leipzig) hat eine ähnliche Topologie – flach, die Innenstadt umgeben von einem Ring (vermutlich ebenfalls frühere Stadtmauer). Die Innenstadt besteht aber aus 100% historischer Substanz mit verwinkelten Gassen – es gibt praktisch keinerlei Parkplätze oder private Stellplätze. Damit ist der Stadtkern praktisch autofrei – trotzdem (oder genau deswegen) aber voller Leben.
Der den Stadtkern umgebende Ring wird von einer Straßenbahn befahren und auch hier kein nennenswerter Autoverkehr, ebenso gibt es ein umfangreiches und günstiges ÖPNV-Netz.